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Was sind
„Doktorspiele“?
„Doktorspiele“ gehören zur normalen Entwicklung von Kindern
im Vor- und Grundschulalter. Bereits Babys entdecken ihren eigenen Körper –
zunächst Haut und Mund, mit wenigen Monaten ihre eigenen Geschlechtsorgane.
Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr beginnen Mädchen und Jungen, andere
in ihre sexuellen Handlungen einzubeziehen. Sie untersuchen sich selbst und
ihre gleichaltrigen Freundinnen und Freunde und erleben sich selbst als Mädchen
oder Junge.
Ab dem vierten Lebensjahr finden „Doktorspiele“ meist in
Form von Rollenspielen statt:
„Arztspiele“ oder „Vater-Mutter-Kind-Spiele“. Die Kinder untersuchen ihre Geschlechtsorgane, imitieren das Verhalten von Erwachsenen (Händchen halten,
knutschen, heiraten) und spielen Zeugungs- und Geburtsszenen. Parallel zu einer
allgemeinen Sexualisierung der Öffentlichkeit – insbesondere der Medien – ist
zu beobachten, dass Kinder im Vorschulalter zunehmend orale Handlungen am
Penis, an der Scheide oder am Anus nachspielen/ausprobieren.
Im Rahmen von „Doktorspielen“ stecken sich Mädchen und
Jungen im Vorschulalter häufig Stifte oder andere Dinge in die Vagina (Scheide)
und in den Anus (Po). Dabei kann es zu unbeabsichtigten Verletzungen kommen.
„Doktorspiele“ sind Kinderspiele. Sie werden unter Kindern
gleichen Alters oder gleichen Entwicklungsstandes mit maximal zwei Jahren
Altersunterschied gespielt. Es sind gleichberechtigte und gegenseitige Spiele.
Das heißt: Die Initiative geht dabei nicht nur von einem Kind aus, und kein
Kind ordnet sich einem anderen unter. „Doktorspiele“ finden eher unter
Freundinnen und Freunden als unter Geschwistern statt.
Reaktionen auf
„Doktorspiele“
Viele Mütter und Väter, aber auch Pädagoginnen und Pädagogen
reagieren verunsichert auf „Doktorspiele“. Einigen ist die Beobachtung
peinlich; sie sehen bewusst oder unbewusst weg. Andere haben Angst, auf Doktorspiele
positiv zu reagieren: Sie sind in Sorge, Mädchen und Jungen würden bei
positiven Reaktionen ein zu starkes Interesse an Sexualität entwickeln.
Wiederum andere vernachlässigen aus einer falsch verstandenen „Offenheit“ die
Vermittlung klarer Regeln für „Doktorspiele“.
Kinder brauchen jedoch eindeutige Regeln, um im Doktorspiel
ihre eigenen persönlichen Grenzen vertreten und die Grenzen der anderen Mädchen
und Jungen wahrnehmen und achten zu können.
Regeln
für „Doktorspiele“
- Jedes
Mädchen/jeder Junge bestimmt selbst, mit wem sie/er Doktor spielen will.
- Mädchen
und Jungen streicheln und untersuchen einander nur so viel, wie es für sie
selber und die anderen Kinder schön ist.
- Kein
Mädchen/kein Junge tut einem anderen Kind weh!
- Niemand
steckt einem anderen Kind etwas in den Po, in die Scheide, in den Penis, in den
Mund, in die Nase oder ins Ohr.
- Größere
Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben bei „Doktorspielen“ nichts zu suchen.
Sexuelle Übergriffe
durch Kinder
Sexuelle Übergriffe sind sexuelle Handlungen, die wiederholt , massiv und/oder gezielt
die persönlichen Grenzen anderer verletzen. Einmalige unbeabsichtigte
Verletzungen im Rahmen kindlicher „Doktorspiele“ sind noch kein Grund zu allzu
großer Besorgnis. Treten jedoch wiederholt Verletzungen auf und missachten
Mädchen und Jungen die ihnen bekannten Regeln für „Doktorspiele“, so ist dieses
Verhalten zweifellos als sexuell übergriffig zu bewerten.
Keinesfalls
ist wiederholt oder gezielt sexuell übergriffiges Verhalten
eine Folge eines zufällig beobachteten
Geschlechtsverkehrs. Sexuelle Übergriffe unter Kindern können ein Hinweis auf
eigene sexuelle Gewalterfahrungen durch andere Kinder, Jugendliche oder
Erwachsene sein – innerhalb und außerhalb der Familie. Oftmals hat
übergriffiges Verhalten jedoch andere Ursachen - zum Beispiel:
- emotionale
Vernachlässigung,
- körperliche
Gewalterfahrungen in und außerhalb der Familie,
- Mobbing-Erfahrungen,
- Zeugenschaft
von (häuslicher) Gewalt
- und
Vernachlässigung des Kinderschutzes bei sexuellen Übergriffen unter Kindern in
pädagogischen Einrichtungen.
Betroffene Mädchen
und Jungen sind Opfer, übergriffige Kinder jedoch keine Täter!
Von sexuellen Übergriffen betroffene Kinder bezeichnet man
als Opfer. Viele Mädchen und Jungen erleben
nicht nur sexuelle Gewalterfahrungen durch Erwachsene, sondern auch durch
gleichaltrige und ältere Kinder als Ohnmachtserfahrung.
Neben dem Begriff „Opfer“ hat sich in Fachkreisen der
Begriff „ sexuell übergriffige Kinder“ durchgesetzt. Man wird sexuell
grenzverletzenden Kindern nicht gerecht, wenn man sie als „Täter“ oder
„Täterin“ kriminalisiert und ihre Handlungen als „Missbrauch“ bezeichnet. Zudem
verschärft eine solche Kriminalisierung in vielen Fällen Konflikte unter den Erwachsenen,
die dann oftmals mit gegenseitigen Beschuldigungen so stark beschäftigt sind,
dass sie die Kinder aus dem Blick verlieren.
Signale, bei
denen Sie pädagogisch eingreifen sollten!
Ein Mädchen/Junge…
- hat
eine stark sexistische Sprache – stärker, als andere Kinder,
- ist
in „Doktorspiele“ mit älteren oder jüngeren Kindern verwickelt,
- versucht,
andere Kinder zu „Doktorspielen“ zu überreden ,
- verletzt
sich selbst oder andere an den Genitalien,
- legt
anderen Kindern ein Geheimhaltungsgebot über „Doktorspiele“ auf,
- fordert
andere Kinder zu Praktiken der Erwachsenensexualität auf,
- spielt
oder spricht über Handlungen, die Erwachsenensexualität entsprechen.
Signale, bei denen Sie mit einer
Beratungsstelle oder dem Jugendamt kooperieren sollten!
Ein
Mädchen/Junge…
- hat
an „Doktorspielen“ ein größeres Interesse als an anderen altersgemäßen Spielen
und Aktivitäten,
- benutzt
eine extrem sexualisierte Sprache und
demütigt wiederholt andere Kinder
oder Erwachsene mit sexistischen Schimpfwörtern,
- versucht
wiederholt , fremde oder uninteressierte
Kinder in „Doktorspiele“ zu einzubeziehen,
- versucht
wiederholt, andere Kinder dazu zu
überreden, die eigenen Geschlechtsteile oder die anderer Kinder zu berühren,
- fordert
wiederholt andere Kinder zu Praktiken
der Erwachsenensexualität auf,
- hat
kein Verständnis für die Rechte anderer Kinder auf sexuelle Selbstbestimmung,
- verletzt
sich selbst oder andere wiederholt
oder gezielt an den Genitalien,
- überredet,
verführt, besticht oder zwingt andere Kinder mit körperlicher Gewalt oder
Drohungen zu „Doktorspielen“,
- erlegt
anderen Kindern unter Anwendung von verbalen Drohungen oder körperlicher Gewalt
ein Schweigegebot über sexuelle Handlungen im Rahmen von „Doktorspielen“ auf.
Wiederholt oder gezielt sexuell übergriffiges Verhalten
von Kindern im Vor- und Grundschulalter darf nicht fälschlicherweise als Folge
eines zufällig beobachteten Geschlechtsverkehrs unter
Erwachsenen bagatellisiert werden. Es ist vielmehr als ein möglicher Hinweis
auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls entsprechend SGB VIII §8a zu verstehen.
Pädagoginnen und Pädagogen sind folglich rechtlich verpflichtet, frühzeitig mit
Fachberatungsstellen oder dem Jugendamt zusammenzuarbeiten. Keineswegs reicht
es im Fällen sexueller Übergriffe aus, mit den Eltern der Kinder zu sprechen
und die Mädchen und Jungen zur Einhaltung der Regeln für „Doktorspiele“ zu
ermahnen.
Im
Frühjahr 2009 erschien unter dem Titel „Wir können was, was ihr nicht könnt!“
ein Bilderbuch über „Zärtlichkeit und Doktorspiele“ für Mädchen und Jungen im
Vor- und Grundschulalter (Enders/Wolters 2009). Das Bilderbuch vermittelt auf
eine kindgerechte Art und Weise Regeln für „Doktorspiele“ und hilft, mit
betroffenen Kindern ins Gespräch zu kommen. In dem didaktischen Begleitmaterial
zu dem Bilderbuch finden Pädagoginnen und Pädagoginnen zudem zahlreiche Tipps:
Wie reagiere ich, wenn mir ein Kind über sexuelle Übergriffe berichtet? Wie
kann ich einmalige sexuelle Grenzverletzungen stoppen und benennen, die
beteiligten Kinder sachlich befragen und betroffene Mädchen und Jungen
unterstützen? ...
© Zartbitter 2009
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