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Die Welle ist noch lange nicht vorbeiZur Aufdeckung der sexuellen Ausbeutung in Institutionen
Vor einem Jahr hätte sich noch niemand vorstellen können, dass die
sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Jungen in Institutionen über Monate
in den Schlagzeilen der Medien stehen würde. Nachdem bereits in den
letzten Jahren u. a. in Irland, den USA und Australien das große Ausmaß
des Missbrauchs durch Priester die Glaubwürdigkeit der katholischen
Kirche in Frage stellte, schien dieser „Kelch“ an den deutschen
Katholiken vorüberzugehen. Es waren Betroffene, die diese auch in
Deutschland längst überfällige öffentliche Debatte lostraten und dem
Rektor des Canisius-Kollegs, dem Jesuiten-Pater Mertens die Chance
gaben, selbst die an dem Berliner Kolleg verübten Sexualdelikte gegen
Kinder und Jugendliche zu veröffentlichen. Die öffentliche Welle der
Empörung über das Ausmaß der Gewalt machte vielen Betroffenen Mut,
Gewalterfahrungen in anderen kirchlichen Institutionen zu
veröffentlichen. Der Mythos, das Zölibat sei eine der zentralen Ursachen
der sexuellen Ausbeutung von Kindern, bestimmte zunächst die
Schlagzeilen der Medien, bis deutlich wurde, dass auch im Internat der
Odenwaldschule, Prestigeprojekt der Reformpädagogik, über Jahre hinweg
Schüler und Schülerinnen sexuell ausgebeutet wurden.
Zartbitter e.V. leistet bereits seit 20 Jahren Pionierarbeit gegen
Missbrauch in Institutionen. Entsprechend zahlreich waren die
Medienanfragen, die neben einer kaum zu überschaubaren Anzahl an
Beratungsanfragen Zartbitter im Frühjahr dieses Jahres überrollten.
Bedauerlich war nur, dass die Medien kaum an fachlichen Informationen
interessiert waren, sondern meist nur an kritischen Stellungnahmen zur
Untermauerung der Unglaubwürdigkeit der Kirche oder an Kommentaren zu
den Reaktionen der Politik auf den Skandal. Einige Journalisten
reagierten ärgerlich, da Zartbitter nicht bereit war, Betroffene als
Studiogäste an sie zu vermitteln. Nachdem die Themen „Bischof Mixa“,
Kloster Ettal, Canisius Kolleg, Odenthalschule und Runder Tisch medial
abgegrast waren, brach das Medieninteresse schlagartig ab. Niemand
wollte das Thema Missbrauch noch hören. Zartbitter gelang es Ende Mai
noch nicht einmal mehr, eine Pressemeldung über die Premiere unseres
neuen Zartbitter-Präventionstheaterstücks „click it!2“ über Mobbing und
sexuelle Gewalt unter Jugendlichen in die Medien zu bekommen. Vermutlich
wäre das Interesse an der Premiere einige Wochen später wieder größer
gewesen: In den Sommerferien wurden die massiven sexuellen
Gewalthandlungen unter Jugendlichen im Feriencamp eines Sportvereins auf
Ameland bekannt. Kurze Zeit später stand eine Kurklinik in Sylt mit
sexuellen Übergriffen unter Kindern in den Schlagzeilen.
Über Presseerklärungen, bundesweite Mailings an Projekte gegen
sexualisierte Gewalt und Artikel auf der Zartbitter-Homepage nutzten die
Zartbitter-MitarbeiterInnen mit großem Erfolg ihre Möglichkeiten, zu
den Entwicklungen fachlich Stellung zu beziehen – und informierten zum
Beispiel über Hintergründe des großen Ausmaßes sexueller Übergriffe
unter Kindern im Vor- und Grundschulalter. Die kritische Stimme von
Zartbitter wurde von Öffentlichkeit und Fachwelt wahrgenommen. Dies
zeigte sich u. a. daran, dass im Frühjahr 2010 an einzelnen Tagen bis zu
1500 unterschiedliche BesucherInnen die Zartbitter-Homepage aufriefen.
Bis Endes des Jahres werden es weit über 100.000 sein.
Als Antwort auf die Skandalwelle luden in Berlin das Familien-,
Bildungfs- und Justizministerium eiligst zum Runden Tisch. Geladen
wurden vor allem die Institutionen und Verbände, die zum Tatort geworden
waren. Opfervertreter wurden ausgeladen, als Alibipersonen wurden dann
doch noch eine Vertreterin der feministischen Mädchenberatungsstellen
und ein Vertreter einer Jungenberatungsstelle eingeladen. Die
Zusammensetzung des Runden Tisches als „Selbsthilfegruppe von Missbrauch
betroffener Institutionen und Verbände“, die um ihren guten Ruf
kämpfen, lässt keine allzu großen Erwartungen an die Ergebnisse
erhoffen. Die zum Runden Tisch geladenen Wissenschaftler können
sicherlich den Austausch nutzen, um Konzepte der Intervention und
Prävention für Hochschulen zu entwickeln: Einzelne sehr renommierte
Universitäten registrieren in den letzten Monaten eine Zunahme der
Meldungen über sexuelle Belästigung an der Hochschule. Durch die
öffentliche Debatte werden die Opfer mutiger und melden sich bei den
Personalabteilungen.
Wie wenig effektiv der Runde Tisch bis heute im Sinne der Opfer ist,
lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass beamtete Lehrer nur bei der
Einstellung und noch immer nicht in regelmäßigen Abständen ein
erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen – eine
Selbstverständlichkeit für alle pädagogischen MitarbeiterInnen der
Jugendhilfe. Das bedeutet, dass beamtete Lehrer, die wegen des Besitzes
von Kinderpornografie zu einer Geldstrafe verurteilt werden, keine
beruflichen Konsequenzen befürchten müssen und weiterhin Kinder und
Jugendliche unterrichten dürfen.
Ebenso erfolgreich wehren sich bis heute die Sportverbände gegen die
Verpflichtung zur Vorlage des erweiterten polizeilichen
Führungszeugnisses – obgleich es unumstritten ist, dass Täter und
Täterinnen sich besonders häufig in Sportvereinen engagieren. Die
Beratungserfahrung von Zartbitter lässt den Rückschluss zu, dass die
„Aufdeckungswelle“ mindestens so lange andauern wird, bis das große
Ausmaß sexueller Ausbeutung in Schule und Sport aufgedeckt ist. Es ist
davon auszugehen, dass dieses keinesfalls geringer ist als in
kirchlichen Institutionen.
Während die Bundesministerien für Familie, Bildung und Justiz den am
Runden Tisch vertretenen Verbänden, Institutionen und Wissenschaftlern
Gelder für Forschung und Projekte bewilligen, stehen die parteilichen
Beratungsstellen gebeutelt dar. Sie können der großen Beratungsnachfrage
betroffener Frauen und Männer und aktuell missbrauchter Mädchen und
Jungen nicht entsprechen, sind hoffnungslos überlastet und zugleich von
finanziellen Kürzungen existenziell bedroht.
Das Bundesfamilienministerium erkennt zunehmend die Grenzen des Runden
Tisches, der nicht mit, sondern über Betroffene redet, und dessen
Zusammensetzung die Expertise der seit Jahren fachlich kompetent und
engagiert arbeitenden Beratungsstellen und Selbsthilfeprojekte
missachtet. Auf Bitte und mit finanzieller Unterstützung des
Familienministeriums organisierten Wildwasser und Tauwetter den Kongress
„Aus unser Sicht“ für Betroffene, bei dem auch Zartbitter mitwirkte.
Die Ergebnisse des Kongresses wurden dem Runden Tisch vorgestellt. Die
„Experten“ und VertreterInnen der Ministerien waren von den zahlreichen
konstruktiven Forderungen beeindruckt. Bleibt zu hoffen, dass die
Forderungen auch politisch umgesetzt werden.
Köln, den 25.10.2010
Zartbitter e.V.
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