Warum es Eltern schwer fällt, ihr Kind nicht
auszufragen...
Der Impuls, ein Opfer sexuellen Missbrauchs immer
und immer wieder nach den Abläufen und den Formen der Missbrauchshandlungen zu
befragen, ist nicht böse gemeint, obgleich die bohrende Fragen betroffene
Mädchen und Jungen durchaus sehr quälen können. Vielmehr erfolgt in fast allen
Fällen ein solches Vorgehen aus menschlich nachvollziehbaren Gründen.
- In den letzten 20 Jahren ist die gesellschaftliche Tatsache der sexuellen
Ausbeutung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es gibt heute kaum
noch jemanden, der das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
anzweifelt. Allerdings können sich die wenigsten Menschen vorstellen, dass auch
in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld Missbrauch stattfinden kann. Sie reagieren
bei der Aufdeckung sexueller Gewalt in ihrem eigenen Familien- oder
Bekanntenkreis meist ungläubig entsprechend dem Motto : „Bei uns doch nicht!“.
Und da die Tatsache eines solchen Verbrechens in ihrem eigenen Lebensumfeld ihr
eigenes Selbst- und Weltbild erschüttert, suchen sie im Sinne einer gesunden
Überlebensstrategie nach Beweisen, um sich Schritt für Schritt der Realität zu
stellen und das für sie Unfassbare zu glauben bzw. Beweise dafür zu bekommen,
dass sie sich geirrt haben und „das Ganze nur ein böser Alptraum war“. In ihrer
Verzweiflung fragen sie das Opfer immer und immer wieder aus. Mangels Kenntnis
versäumen sie es, andere Informationsquellen zu nutzen, die ihnen eine
eindeutige und mit dem Opfer parteiliche Bewertung der Problemlage erleichtern
würden (z.B. eine systematische Analyse der von ihnen zuvor beobachteten nicht
als solches erkannten Täterstrategien). Leider sind die bohrenden Fragen der
Umwelt für die Opfer extrem belastend. Betroffene Mädchen und Jungen resignieren
zum Beispiel häufig, wenn ihnen die gleichen Fragen mehrmals gestellt werden,
denn sie werten dies als Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.
- In den meisten Fällen der sexuellen Ausbeutung wurde diese von einer Person
verübt, den die Umwelt des Kindes schätzt oder sogar liebt und von dem man sich
nicht vorstellen kann, dass er zu derartigen Gewalthandlungen fähig ist. Viele
Menschen möchten fair sein und diesen Menschen nicht zu Unrecht beschuldigen.
Dabei übersehen sie, dass es nicht die Aufgabe von Eltern oder anderen
Kontaktpersonen von Kindern ist, zu beurteilen, ob ein Missbrauch und in welcher
Form tatsächlich stattgefunden hat, sondern die Aufgabe von Gerichten. Die
Verantwortung von erwachsenen Bezugspersonen eines betroffenen Mädchens/jungen
ist es, das Kind zu schützen, wenn eine Vermutung besteht. Damit hat man noch
keine Aussage darüber gemacht, ob eine Person ein Kind missbraucht hat oder
nicht. Oftmals empfiehlt es sich, den Schutz des Kindes zunächst diplomatisch
sicher zustellen und die Vermutung der sexuellen Ausbeutung nicht gegenüber
Dritten auszusprechen. Es gilt dann zu entscheiden, ob man eine Strafanzeige
erstatten will oder nicht und die Ermittlungsarbeiten den
Strafverfolgungsbehörden zu überlassen.
- Wiederholte Befragungen der Opfer durch Laien kann dazu führen, dass deren
Aussagen in evtl. späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen nicht mehr
verwertbar sind. Es ist im Nachhinein auch für Gutachterinnen und Gutachter
nicht mehr feststellbar, welches die ursprünglichen Angaben des Kindes waren und
welche Angaben diesem im Rahmen der mehrfachen Befragungen durch die Umwelt
suggeriert wurden. So manche Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen
sexuellen Missbrauchs und so mancher Freispruch eines tatsächlichen Täters sind
auf die bohrenden Fragen der Umwelt des betroffenen Kindes zurückzuführen. Für
die Opfer ist dies ein herber Schlag.
- Einige Erwachsene glauben fälschlicherweise, dass es für den Heilungsprozess
eines Opfers förderlich oder sogar notwendig ist, die Details der
Missbrauchshandlungen möglichst genau auszusprechen. Sie glauben, das Opfer in
der Verarbeitung der Gewalterfahrungen zu unterstützen, in dem sie immer wieder,
durch Fragen das Kind zu motivieren versuchen, über die belastenden Erlebnisse
zu sprechen. Diese Menschen wissen nicht, dass es für einen erfolgreichen
Heilungsprozess von Opfern reicht, wenn etwa 20% der Gewalterfahrungen
durchgearbeitet werden – wie auch immer, denn die Erlebnisse müssen noch nicht
einmal ausgesprochen, sondern können auch im therapeutischen Spiel verarbeitet
werden. Durch massives oder wiederholtes Nachfragen werden Opfer oftmals
nochmals massiv geschädigt: Durch dieses Vorgehen werden häufig
„Erinnerungsfilme“ (Flashbacks) ausgelöst. Die Mädchen und Jungen erleben erneut
die Gefühle, die sie in der Missbrauchssituation hatten – und zwar mit einer
solchen Intensität, als ob die Gewalthandlungen im Hier und Jetzt wieder
stattfänden. Derartige Erinnerungsfilme können Kinder erneut traumatisieren.
Nicht selten haben sie ebenso zur Folge, dass Mädchen und Jungen jedesmal an den
Missbrauch wieder erinnert werden, sobald sie den Personen begegnen, die
bohrende Fragen stellten. Die Begegnung mit ihnen wird somit zum Auslöser für
Erinnerungsfilme (Trigger). Im Sinne einer gesunden Überlebensstrategie brechen
viele betroffene Mädchen und Jungen den Kontakt zu diesen Menschen ab bzw.
ziehen sich emotional von diesen zurück. Als befreiend erleben vor allem sehr
junge Opfer häufig die Vernehmung durch die Kriminalpolizei. Polizistinnen und
Polizisten sind Menschen, deren Aufgabe es ist, Kinder zu schützen, die wissen,
worum es geht, und die es gelernt haben, ohne viel Gefühl sachlich nachzufragen.
Diese Sachlichkeit tut vielen kindlichen Opfer gut: Sie können endlich mal offen
sprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr Gegenüber traurig wird,
zusammenbricht oder sich nicht vorstellen kann, „dass es so etwas tatsächlich
gibt“. Zudem haben Polizistinnen und Polizisten noch einen entscheidenden
Vorteil: Sie sind und bleiben Fremde, die man meist nur einmal sieht und bei
denen man sich somit keine Sorgen zu machen braucht, dass sie am nächsten Tag
die gleichen Fragen nochmals stellen. Bei ihnen kann man endlich einmal alles
„los“ werden. Eltern befürchten oftmals, dass polizeiliche Vernehmungen für ihre
Töchter und Söhne besondere belastend sind. Sie sind nicht selten sehr erstaunt
darüber, wie erleichtert insbesondere sehr junge Opfer häufig nach der
Vernehmung sind.
Auch wenn man betroffene Kinder und Jugendliche nicht ausfragen
soll, bedeutet dies nicht, dass man mit kindlichen Opfern sexuellen Missbrauchs
nicht über die Gewalterfahrungen sprechen darf. Es gilt jedoch, in einer
sachliche Atmosphäre Opfern behutsame Hilfestellungen zu geben, damit diese von
sich aus über die belastenden Erlebnisse sprechen können – soweit sie dies
wollen und es für sie selbst der richtige Zeitpunkt ist.
©
Zartbitter Köln: Ursula Enders 2004
|