"Sündenböcke" helfen nicht!
Die Schulverwaltung muss lernen, den Schutz von Schülerinnen und
Schülern vor sexuellen Übergriffen sicherzustellen. Jedes Jahr wieder vor den Sommerferien, wenn die Notenkonferenzen vorbei sind, halten wir MitarbeiterInnen von Zartbitter uns in Alarmbereitschaft: Kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein Fall von sexuellen Übergriffen bei uns bekannt wird. Nachdem die betroffenen Schülerinnen und Schüler nun keine Angst mehr vor einer ungerechten Notengebung haben, finden sie den Mut, sich ihren Müttern und Vätern oder anderen Lehrerinnen und Lehrern anzuvertrauen. Diese melden sich dann bei Zartbitter. Die Vorfälle an dem Kölner Gymnasium waren auch in diesem Sommer nicht die einzigen, von denen wir in diesem Jahr vor den Sommerferien erfuhren. Zartbitter musste sich z. B. auch mit dem Fall sexueller Übergriffe durch einen bereits pensionierten Kollegen auseinandersetzen. Auch in diesem Fall hatte Zartbitter bereits vor Jahren die Schulleitung mit dem übergriffigen Verhalten des Lehrers konfrontiert und war mit dem Hinweis auf dessen anstehende Pensionierung beruhigt worden. Nun stellte sich heraus, dass die Schulleitung dem übergriffigen Lehrer auch nach dessen Pensionierung gestattet hatte, ehrenamtlich einzelne Mädchen und Jungen in den Räumen der Schule weiterhin zu fördern. Auch in diesem Fall waren es Eltern, die erneut die Übergriffe durch den pensionierten Lehrer aufdeckten. Die erst seit kurzem eingesetzte neue Schulleitung hatte die Krise zu managen. Früher haben wir BeraterInnen von Zartbitter uns in diesen Fällen sehr offensiv für den Schutz von Mädchen und Jungen eingesetzt und uns z. B. an die jeweilige Schulleitung gewandt. So manche Schulleiterin/mancher Schulleiter setzt sich engagiert für das Wohl der ihr/ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen ein. Schwierigkeiten entstanden in der Begleitung einzelner Fälle jedoch wiederholt dann, wenn der Regierungspräsident bereits in einem frühen Stadium eingeschaltet wurde. Die Juristen des RP’s legten den Lehrerinnen und Lehrern ein Schweigegebot und Kooperationsgebot auf, so dass eine weitere Begleitung der von den Kindern gewählten Vertrauenspersonen nicht mehr möglich war. Zudem ordneten sie z. B. an, dass ein mit der Problematik absolut unerfahrener Schulleiter die Kinder befragen sollte. Wen wundert es, wenn bei einer solchen Vorgehensweise die Fakten nicht zusammengetragen werden können. In anderen Fällen wurden Mädchen und Jungen von den sicherlich im Arbeitsrecht sehr fitten Juristen des Regierungspräsidenten befragt. Eine solche, wenig opfergerechte, Vorgehensweise muss nicht sein. In Bremen praktiziert man schon seit Jahren erfolgreich ein Verfahren bei sexuellen Übergriffen durch Lehrer und Lehrerinnen, dass im interdisziplinären Dialog mit Opferberatungsstellen und Tätertherapeuten entwickelt wurde. Zudem werden alle Bremer Schulleiterungen intensiv für den Umgang mit der Problematik geschult. In Köln wird – soweit Zartbitter informiert ist – die Thematik lediglich im Rahmen der Vorbereitungen neuer Schulleitungen auf ihre Funktion angesprochen. Das sehr erfahrene, in diesem Sommer entlassene ModeratorInnenteam der Bezirksregierung für die Fortbildungen zum Problembereich „Sexueller Missbrauch“ forderte bereits vor mehreren Jahren, dass der Regierungspräsident Köln das Bremer Modell übernehmen solle. Leider hat der Regierungspräsident nach einer ersten Schulung der Dezernenten keine weiteren Schritte in diese Richtung unternommen. Ich habe selbst als Lehrerin in einer weiterführenden Schule unterrichtet. Ich weiß, wie viel Lehrerinnen und Lehrer sich engagiert für Opfer sexueller Übergriffe einsetzen und oftmals einen verzweifelten Kampf gegen die wenigen übergriffigen Kolleginnen und Kollegen führen, die ihren gesamten Berufsstand in Verruf bringen. Auch an meiner alten Schule gab es einen übergriffigen Kollegen. Allen engagierten Kolleginnen und Kollegen zolle ich meine Hochachtung. Es ist jedoch an der Zeit, dass wir gemeinsam die Missstände benennen. Auch wenn im Rahmen dieser Aufdeckung die Grenzen einzelner Schulleitungen oder Kollegen/Kolleginnen deutlich werden, die in der Vergangenheit Kinder und Jugendliche nicht ausreichend schützen konnten, hilft es wenig diese zum Sündenbock zu machen. Strukturelle Veränderungen sind gefordert. Als erstes hat der Regierungspräsident entsprechend dem Vorbild des Bremer Senats neue Verfahrenswege zur Abklärung sexueller Übergriffe zu entwickeln. Er kann seine Verantwortung nicht auf Schulleitungen und Kollegien abwälzen. Eine Personalisierung des Problems und die Suche nach einzelnen Sündenböcken helfen nicht weiter. Strukturelle Veränderungen tun Not! Ursula Enders, 15.10.2009 |